Freitag, 18. Januar 2008

Diskussion um Absage für den Papst: Was bedeutet Galileo für uns heute?

Die katholische Kirche und die Inquisition. Auch viele Christen schütteln darüber nur ungläubig den Kopf und sind froh, dass es einen Galileo Galilei gab, der der Kirche die Stirn geboten hat.
- Oder war es doch anders?


Hier ein Artikel aus der Zeitung "WELT":
Nicht Galileis Argumente waren ketzerisch. Verdammenswert war die blinde, rücksichtslose Überheblichkeit, mit der er sie ins Universum hinausposaunte. Ohne sich zu überlegen, was er damit, außerhalb seines akademischen Fachbereichs, anrichtete. Der Fall Galileo Galilei war schlimmer: Dieser verantwortungsloseste aller Wissenschaftler war im Begriff, die ganze Menschheit zu beschädigen.
Kaum war Galileo Galilei 1609 der grosse Scoop mit dem „nuncius sidereus“ gelungen, da stellte er schon das „von ihm erfundene Fernrohr“ hoch auf dem Campanile von San Marco in Venedig auf. Um ihn herum Venedigs Feldherrn. Stolz richtete er das Objektiv auf die Kriegs- und Handelsschiffe unten in der Lagune. Vor dem staunenden venezianischen Militär pries er die Vorzüge seiner angeblichen Erfindung mit folgenden Worten: „Auf dem Meere werden wir die Fahrzeuge und Segel des Feindes zwei Stunden früher entdecken, als er unser ansichtig wird. Indem wir so die Zahl und Art seiner Schiffe unterscheiden, können wir seine Stärke beurteilen, um uns zur Verfolgung, zum Kampf oder zur Flucht zu entschliessen. Ebenso lassen sich auf dem Lande die Lager und Verschanzungen des Feindes innerhalb seiner festen Plätze von entfernten, hochgelegenen Stellungen aus beobachten und auch auf offenem Felde zum eigenen Vorteil jede seiner Bewegungen und Vorbereitungen sehen und in allen Einzelheiten unterscheiden.“
Aufschlussreicher als das, was einer sagt, ist aber die Art, wie er es sagt. „Wir werden“, „wir können“, „wir unterscheiden“, „wir beurteilen“, das ist, obwohl aus Galileis Mund hoch auf dem Campanile von San Marco ertönend, nicht etwa der Plural majestatis. Es ist das "Wir" bedenkenloser und vorbehaltloser Anbiederung eines Wissenschaftlers mit dem Militär.
In Würdigung solchen militärischen Diensteifers verlieh der Rat von Venedig dem Florentiner auf der Stelle ein Jahresgehalt von tausend Gulden sowie einen Lehrstuhl für Mathematik auf Lebenszeit.

Ein epochaler Januskopf: Champion der Emanzipation der Wissenschaft aus kirchlicher Knechtschaft und Märtyrer moderner Geistesfreiheit, das ist, von vorn betrachtet, das schöne Gesicht der Kultfigur Galileo Galilei. Von hinten betrachtet aber ist dies die hässlichste aller akademischen Fratzen: ein Naturwissenschaftler, der übereifrig, skrupellos sein Wissen und seine Technik in den Dienst politischer Tyrannen stellt. Und ihrer Feldherrn.
Mit moralischen Urteilen war die Inquisition nie so voreilig wie die atheistische Moderne. In diesem exemplarischen Falle allerdings soll das Urteil einem deutschen Atheisten überlassen werden.
In seinen „Aufzeichnungen zum ‚Leben des Galilei’“ schreibt Bertolt Brecht: „Galileis Verbrechen kann als die ‚Erbsünde’ der modernen Naturwissenschaften bezeichnet werden.“ Und für alle jene, die etwas Mühe haben zu verstehen, fügt er hinzu: „Die Atombombe ist sowohl als technisches als auch soziales Phänomen das klassische Endprodukt seiner wissenschaftlichen Leistung und seines sozialen Versagens.“

Warum die Inquisition im Fall Galilei Recht hatte

Der Besuch von Papst Benedikt XVI. in der römischen Universität "La Sapienza" ist geplatzt. Der Grund liegt im Jahr 1990. Damals hatte Kardinal Ratzinger in einem Vortrag einen österreichischen Philosophen zitiert, der das Vorgehen der Inquisition gegen Galilei verteidigt hat. Zu Recht, denn Galilei war ein selbstsüchtiger Ketzer.

„Die Kirche zur Zeit Galileis hielt sich viel enger an die Vernunft als Galilei selber, und sie zog auch die ethischen und sozialen Folgen der Galileischen Lehren in Betracht. Ihr Urteil gegen Galilei war rational und gerecht, und seine Revision lässt sich nur politisch-opportunistisch rechtfertigen.“
Diese 45 Worte des österreichischen Philosophen Paul Feyerabend aus dem Jahr 1976 haben den Besuch des Papstes in der römischen Universität „La Sapienza“ gestern (17. Januar) platzen lassen. Weil Joseph Ratzinger sie 1990 einmal in einem Vortrag in Parma zitiert hatte, waren sie jetzt als Sprengsatz gegen den Besuch des Pontifex benutzt worden. Der Fall Galilei ist ein heiliges Tabu der Moderne.
Grund genug, heute noch einmal eine stark gekürzte und provokante Darstellung vom Prozess gegen den Astronomen aus dem Jahr 1633 vorzustellen, die wir der „Kurzgefassten Verteidigung der Heiligen Inquisition“ von Hans Conrad Zander entnehmen. Der ehemalige Stern-Redakteur und Kisch-Preisträger 2007 hatte sie unter dem Gewand des Großinquisitors – und mit einer Narrenkappe – in Gütersloh vorgelegt.

Galileo Galilei am 22. Juni 1633, im Augenblick tiefster Demütigung. Soeben haben die Schergen der Heiligen Inquisition den weltberühmten Astronomen gezwungen, niederzuknien und das Urteil der Infamie als sein eigenes Geständnis vorzulesen: „Ich, Galileo, Sohn des Vincenzio Galilei aus Florenz, siebzig Jahre alt, knie vor Euch Eminenzen Inquisitoren gegen die Verworfenheit der Ketzerei. Von Rechts wegen war mir von diesem Heiligen Amt auferlegt worden, jene falsche Meinung völlig aufzugeben, dass die Sonne der Mittelpunkt der Welt sei und sich nicht bewege, dass die Erde hingegen nicht der Mittelpunkt der Welt sei und sich im Gegenteil bewege.“
Es ist allerdings eine Phantasie, keine Wirklichkeit, die Murillo auf diesem Gemälde in Szene gesetzt hat, wo Galileo Galilei, ungebrochen noch im Augenblick der schändlichen Erniedrigung, die Hand hebt und mit dem Finger hinzeigt auf den Satz, der so berühmt werden sollte wie er selbst: „Eppur si muove. Und sie bewegt sich doch.“
Ein Moment von epochaler Theatralik. Ob die Erde um die Sonne sich drehe oder die Sonne um die Erde, das war gewiss im Jahr 1633 noch nicht wissenschaftlich überprüfbar. Doch alle wussten schon, dass dies grundsätzlich überprüfbar war. Dass es schon bald zuverlässig überprüfbar würde, lag 1633 in der Luft.

Die Schande der Inquisition ist deshalb die Glorie Galileo Galileis. Mögen ihn die Foltermönche jenes unmenschlichen Tribunals einen Augenblick in die Knie gezwungen haben, so steht er doch für alle Zukunft aufrecht vor uns. In ihm verkörpern sich jene beiden Ideale, mit denen die Moderne die mittelalterliche Dunkelmännerei überwunden hat: Freiheit des Denkens und – untrennbar mit ihr verbunden – freie, unvoreingenommene Erforschung der Wahrheit. Nur hat Galileo Galilei nie in einem Kerker der Inquisition geschmachtet. Und nicht einen Augenblick wurde er gefoltert. Wohl wurde er „ad formalem carcerem“ verurteilt. Mit „Proforma-Gefängnis“ ist das bestens übersetzt. Selbst während jener wenigen Tage des Prozesses, die er, zuerst im Frühling, dann im Sommer 1633, im Palast der Römischen Inquisition verbringen musste, hat er nicht in einem Folterkeller bei Wasser und Brot gesessen. Der Fiskal, einer der höchsten Beamten der Römischen Inquisition, hat ihm eine ganze Flucht schöner Zimmer in seiner privaten Wohnung überlassen. Sein eigener Diener hat ihm dort den Tisch gedeckt – nicht aus dem Blechnapf, sondern aus der Küche der florentinischen Botschaft. Sie stand im Ruf, die beste von ganz Rom zu sein.
An Folter kein Gedanke. Das römische Tribunal, das den Angeklagten Galileo Galilei so milde behandelt hat, war eine Inquisition mit menschlichem Gesicht.
Nicht abstrakt und übertragen meine ich das, sondern konkret und persönlich: Das Gesicht des Inquisitors, in das der Angeklagte Galileo Galilei blickte, war das Gesicht Robert Bellarmins. Er hat das gesamte Verfahren gegen Galileo Galilei persönlich geprägt. Es gab aber in ganz Rom keinen Menschen mit weiterem Horizont, mit größerer Vorsicht im Urteil als diesen Jesuiten.

In diesem Jahr 1610, das bezeugen alle, befand sich Galileo Galilei in einem Zustand hochgradiger Erregung. Nicht nur innerlich, sondern auch in seiner äußern Art, zu reden und sich zu gebärden. Soeben hatte er ein kleines Heft mit dem Titel „sidereus nuncius“ veröffentlicht: „Der Sternenbote“. Das klingt nach harmlosem Almanach. Noch harmloser war die Auflage: 550 Stück. Doch zu Recht hat man die Wirkung jener winzigen lateinischen Druckschrift verglichen mit der Faszination, die Hunderte von Millionen Menschen im 20. Jahrhundert erfasst hat, als sie im Fernsehen Zeugen wurden, wie der erste Mensch auf dem Mond landete. Schon das Titelblatt versprach „magna, longeque admirabilia spectacula“. Das heißt auf deutsch: „große Sensationen“. Doch die eigentliche Sensation war absichtsvoll im Inneren verschlüsselt. Wer nur ein bisschen Latein konnte, der verstand, dass Galileo Galilei „perspicilli nuper a se reperti“ – mit dem „neulich von ihm erfundenen Fernrohr“ – den Beweis erbringe, dass nicht die Sonne sich um die Erde, sondern im Gegenteil die Erde sich um die Sonne drehe.
Ungeheuer war die Aufregung im gebildeten Europa. Am aufgeregtesten aber war Galileo Galilei selbst. 46 Jahre alt war er im Jahre 1610. Ein vorgerücktes Alter in jener Zeit – und er steckte in Geldnöten.
Und jetzt mit einem Mal der große Scoop des „Sternenboten“. Für ihn selbst der Rausch globalen Ruhms. Und das große Geld: Gleich wird der Astronom „Erster Mathematiker und Philosoph des Grossherzogs von Toskana“. Mit einem Jahresgehalt von tausend Florentiner Scudi.

So berauscht war Galileo Galilei von seinem Triumphzug durch die römischen Salons, dass er eins nicht merkte. Wie leidenschaftlich auch das Rom des 17. Jahrhunderts dem Geniekult huldigte, etwas anderes machte den Römern noch größeren Spaß: so ein hochgefeiertes Genie zu verspotten. Wo immer sich vor ihm die Bewunderer sammelten, kicherten hinter ihm die Spötter: „Schaut, da kommt er, der das Fernrohr erfunden hat.“ Und sie zwinkerten einander zu.
Unbegreiflich, dass Galilei Galilei einen solchen Schwindel gleich aufs Titelblatt seiner Sensations-Schrift gesetzt hat. Sechs Jahre vor ihm schon hatte nämlich ein Zacharias Janssen aus Middelburg das Fernrohr erfunden. Zwei Jahre vor Galilei war die holländische Erfindung bereits auf der Frankfurter Messe im Dutzend feilgeboten worden. Tatsächlich hat Galileo Galilei das protestantische Fernrohr ein bisschen katholisch umgebastelt.
Um die Wahrheit herauszufinden, braucht man in den meisten Fällen kein Fernrohr. Manchmal genügt da einfach ein gutes Gedächtnis. „Erstens: Für alle Himmelskreise gibt es nicht nur einen Mittelpunkt," hatte schon im Jahr 1507 ein gewisser Domherr Koppernigk in Heilsberg im Ermland geschrieben. Und weiter: „Zweitens: Die Erde ist nicht der Mittelpunkt der Welt. Drittens: Alle Planeten umkreisen die Sonne als ihren wahren Mittelpunkt. ... Sechstens: Die Sonne dreht sich nicht um die Erde, sondern umgekehrt." Und so weiter und sofort. Und so weiter und so fort, rund 100 Jahre vor Galilei. Als wissenschaftliche Hypothese wollte Nikolaus Kopernikus sein astronomisches System verstanden wissen, die zahlreiche Beobachtungen am Himmel besser allerdings besser erklären konnte als die alte Hypothese des Ptolemäus.
Galilei war noch gar nicht geboren, da verbreitete sich die neue Lehre des Kopernikus schon durch alle Universitäten der katholischen Welt. An der spanischen Universität Salamanca wurde Astronomie seit 1561 parallel nach Ptolemäus und nach Kopernikus gelehrt. Damit die Studenten vergleichen konnten.
Im Jahr des Heils 1606 lehrt Professor Galilei in Padua aber stur immer noch nichts weiter, als dass sich die Sonne um die Erde dreht. Zwei Jahre bereits nach der Erfindung des Fernrohrs in Holland! Und nur vier Jahre bevor er mit seinem „sidereus nuncius“ die ganze Welt verrückt macht mit der „großen Sensation“, das „von ihm erfundene Fernrohr“ erbringe den unfehlbaren Beweis, dass hinfort nichts mehr wahr sei, gar nichts anderes mehr als der von ihm bisher kategorisch verworfene Kopernikus.
Dass sie es da mit einem Genie zu tun hatte, war der Inquisition klar. Frage nur, was für ein Genie. Eher wohl Europas erstes Medien-Genie. Ein Genie der Selbstdarstellung. Mitten in der Renaissance ein hochmodernes Marketing-Genie. Aber ein Genie der Astronomie?

Was Galilei leidenschaftlich bewegte, war im Grunde ein steinalter Wissenschaftsbegriff. Aus seiner antiken Badewanne war Archimedes gesprungen, splitternackt war er durch alle Straßen von Syrakus gelaufen, laut schreiend: „Heureka!“. „Ich habe es entdeckt!“ Und so Galileo Galilei. Sehen wir ihm doch die erfundene Erfindung seines Fernrohrs nach und halten wir ihm dies zugute: Was er gesehen hatte durch sein holländisches Rohr, die Jupitermonde zum Beispiel, hatte ihn hineingerissen in den triumphierenden Taumel des Entdeckers: „Heureka!“ – Den Inquisitor Robert Bellarmin hingegen erfüllte schon damals jenes moderne Ideal der Wissenschaft, das im 20. Jahrhundert Karl Popper klassisch vertreten hat, als er lehrte, dass jede wissenschaftliche Behauptung nur Hypothese sein darf. Und dies so, dass noch die überzeugendsten Beweise für die eine Hypothese die andere nicht endgültig ausschliessen.
Fast gelyncht wurde 1908 der berühmte französische Physiker Pierre Duhem, als er die historische Wahrheit aussprach, im Prozess gegen Galileo Galilei habe „die wissenschaftliche Logik“ dort gestanden, wo sie immer noch stehe, nämlich auf der Seite der Inquisition: „Angenommen, die Hypothesen des Kopernikus könnten alle bekannten Erscheinungen erklären, dann könnte man daraus schliessen, dass sie möglicherweise wahr sind, keineswegs aber, dass sie notwendig stimmen. Um diesen letzten Schluss zu ziehen, müsste man ja beweisen, dass kein anderes System erdenkbar ist, das die Erscheinungen genau so gut erklärt. Dieser letzte Beweis ist aber nie geführt worden.“
Monsieur le Professeur, jenes „andere System“ ist inzwischen erdacht! Die Relativitätstheorie nämlich. Sind alle Erscheinungen relativ zum Ort des Betrachtenden und Messenden, dann ist das ganze Universum relativ zu unserem Ort. Zu unserer alten Erde. Vielleicht hat Gott ja schon vor Einstein etwas von Relativität verstanden.
Je länger und aufmerksamer der Inquisitor Galileo Galilei zuhörte, desto mehr wuchsen seine Zweifel. Nicht an der alten These des Kopernikus, sondern an Galileis neuen Beweisen. Wenn es aber etwas gab, was Galileo Galileis cholerisches Temperament nicht vertrug, dann waren das die milden Zweifel eines aufgeklärten, ihm intellektuell überlegenen Inquisitors.

In unbedachter Leidenschaft wählte er die Vorwärtsverteidigung. Bellarmin zum Trotz veröffentlichte er 1616 seinen „Diskurs über Ebbe und Flut“. Endgültig, trumpfte er auf, sei ihm jetzt gelungen zu beweisen, dass nicht die Erde, sondern die Sonne der Mittelpunkt des Universums sei. Die Gezeiten der Meere nämlich seien dafür der empirische Beweis. Die Inquisition schüttelte den Kopf. Italiens Astronomen schüttelten ebenfalls den Kopf. Dass Ebbe und Flut nicht von der Sonne abhangen, sondern, wie das Wohl und Weh der Frauen, vom Mond, weiß inzwischen jedes Kind. Damals wusste es schon jeder Astronom – und konnte es beweisen. Dringend, mündlich zuerst und zuletzt auch schriftlich, hatte Bellarmin Galilei ermahnt, er möge gewiss seine Forschungen weiterführen und seinen kopernikanischen Standpunkt ruhig weitervertreten, jedoch im Sinne einer noch beweisbedürftigen Hypothese. Galilei hat den Rat missachtet.
Oft wird behauptet, im Jahr 1616 habe eine „erste Verurteilung“ Galileo Galileis durch Heilige Inquisition stattgefunden. Das stimmt, ohne zu stimmen. In Wirklichkeit hat die Inquisition nur ein „Dekret“ erlassen. In diesem „Dekret“ kommt der Name Galileo Galilei überhaupt nicht vor. Als „schriftwidrig“ und „töricht“ wird keineswegs eine Person verurteilt, wohl aber zwei Sätze: „1. Die Sonne ist das Zentrum der Welt und infolgedessen unbeweglich“ und „2. Die Erde ist nicht das Zentrum der Welt und nicht unbeweglich.“ Genannt wird nur Kopernikus. Doch wird auch Kopernikus nicht verdammt, seine „revolutiones“ werden nur – 73 Jahre nach Erscheinen – „suspendiert“, solange, bis sie „verbessert“ seien.
Viel zu erzählen ist danach nicht. Dass Galilei, zur Hälfte jedenfalls, recht hatte, war zu seinen Lebzeiten empirisch weder nachzuweisen noch zu widerlegen.
Dass ein Mensch, nach psychiatrischem Befund, an Verfolgungswahn leidet, schließt ja keineswegs aus, dass er, bei Gelegenheit, wirklich Verfolgung erleidet. Er wird ja auch die Gelegenheit, verfolgt zu werden, suchen. Genauso ist es mit dem inquisitorischen Befund, dass ein Mensch erstarrt ist in ketzerischem Trotz. Das schließt nicht aus, dass jener Mensch, bei Gelegenheit, in der Sache recht hat. So wie im Fall Galilei.

Erst ein halbes Jahrhundert später, hat sich – dank Newtons Entdeckung des Fallgesetzes – herausgestellt, dass Kopernikus recht hatte. Zur Hälfte jedenfalls. Denn auch er und mit ihm Galilei irrten in der Hypothese, die Sonne sei der Mittelpunkt der Welt. Es ist deshalb wohl doch zu hoch gegriffen, Galilei mit Archimedes zu vergleichen. Denn im Grunde ist Galileo Galilei im Jahr 1633 mit seinem holländischen Fernrohr so umgegangen wie Erich von Däniken im 20. Jahrhundert mit den Spuren der Außerirdischen im Urwald von Peru. Es ist ja durchaus möglich, dass Außerirdische uns besucht haben. Möglich auch, dass sie uns noch besuchen werden. Auch wenn es nicht so in der Bibel steht, darf dieser Hypothese wissenschaftlich nachgegangen werden.
Möglich, dass im 21. Jahrhundert neue, aufregende wissenschaftliche Entdeckungen Däniken überraschend recht geben werden. Dass dann ganz Europa und die Schweiz Erich von Däniken als den größten Wissenschaftler aller Zeiten feiern werden. Karl Popper würde wohl dennoch nüchtern genug sein, die Sache bis zum letzten Beweis – oder dem Beweis des Gegenteils – skeptisch betrachten. So tat es damals auch die Inquisition.
1621 starb Robert Bellarmin. Galilei verlor den Inquisitor, der ihm, durch alle seine Anmassungen hindurch, mit Verständnis gefolgt war. Sein Fall schien verloren, als 1623 Urban VIII. den Thron der Päpste bestieg. Schon als Kardinal hatte er Galilei seine Gunst erwiesen. Wer konnte Galilei jetzt noch schaden, jetzt, wo der neue Papst selber sein Protektor war?
Nur einer. Nur er selbst. Gegen den dringenden Rat der Inquisition, gegen die beschwörenden Bitten seiner Freunde schrieb er 1631 den „Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo“, einen Dialog über die beiden großen Systeme des Ptolemäus und des Kopernikus.
Dialoge waren damals große humanistische Mode. Auch Thomas Morus hat solche Dialoge geschrieben, und dabei die unterschiedlichen Standpunkte der verschiedenen Gesprächsteilnehmer alle gleich scharfsinnig vertreten – so scharfsinnig, dass bis heute niemand weiß, was er eigentlich selber dachte.
Bei Galileo Galileo merkt das der Dümmste auf der Stelle. Gegen Galilei argumentiert nämlich in seinem Dialogo nur ein Gesprächsteilnehmer. Der heißt „Simplicio“, auf deutsch „Einfaltspinsel“. Dieser Einfaltspinsel aber trägt, für das spottlustige italienisches Publikum jener Zeit sofort erkennbar, die persönlichen Züge Papst Urbans VIII.
War Galilei übergeschnappt? Nein. Das unfehlbare Genie war nur wieder einmal tödlich beleidigt. Beleidigt, weil sein neuer Freund und Beschützer, Papst Urban VIII., es gewagt hatte, ihm ins Gesicht zu sagen, er sei im Irrtum mit seiner These, dass die Gezeiten der Meere das kopernikanische System bewiesen. Und so war, nach 23 Jahren, die langmütigste aller Institutionen dieser Welt, die Heilige Inquisition, am Ende ihrer Engelsgeduld. Im Festsaal des Dominikanerklosters Santa Maria Sopra Minerva zwangen sie am 22. Juni 1633 Professor Galileo Galilei in die Knie.
Inzwischen ging Galilei auf die siebzig zu und war an Leib und Seele krank. Halb erblindet war er schon. 23 Jahre lang war die Inquisition klug genug gewesen, Galileo Galilei, auf deutsch gesagt, auszusitzen. Warum war sie jetzt auf einmal so unklug, jenes höchst spektakuläre Showdown im Festsaal der Minerva zu inszenieren? Und sich damit dem Risiko einer epochalen Blamage auszusetzen? Neues gab es doch im Jahr 1633 nicht. Keine neuen astronomischen Erkenntnisse.
Urban VIII. war es persönlich, der 1633 die Anweisung gab, Galileo Galilei vor aller Welt den Meister zu zeigen. Ausgerechnet Urban VIII., der Galileo Galilei persönlich die größten Sympathien entgegenbrachte. Der ihn sechsmal zu langen, ehrenvollen Audienzen empfangen, ihn huldvoll beschenkt hatte mit allen möglichen Medaillen aus Silber und aus Gold. Der ihm höchstselbst schon eine päpstliche Pension verliehen hatte. Der es in seiner väterlichen Güte nicht einmal ernst nahm, dass Galileo Galilei ihn als „Simplicio“ veralbert hatte.
Etwas anderes aber nahm Urban VIII. sehr ernst: Mit seiner astronomischen Revoluzzerei brachte Galileo Galilei den katholischen Glauben in schwere Gefahr. Galilei scheint das überhaupt nicht gemerkt zu haben.
Luther selber hatte damals den Streit um Kopernikus mit einem Satz auf den protestantischen Punkt gebracht: „Der Narr will die ganze Kunst Astronomiae umkehren. Aber wie die Heilige Schrift anzeiget, so hiess Josua die Sonne stillstehen, und nicht das Erdreich.“
Luthers Freund Philipp Melanchthon, sonst bereit, sich mit jedem zu versöhnen, vielleicht sogar mit dem Papst, rief auf zur Allianz zwischen protestantischer Bibeltreue und gesundem Menschenverstand: „Die Augen sind Zeugen, dass sich der Himmel in vierundzwanzig Stunden umdreht. Doch gewisse Leute haben, entweder aus Neuerungssucht, oder um ihre Klugheit zu zeigen, geschlossen, dass sich die Erde bewegt.“
Und wie erging es Kepler, Galileis deutschem Zeitgenossen, bei den Protestanten? Kepler, dem evangelischen Theologen aus dem Stift in Tübingen? Wie wurde er doch seiner kopernikanischen Neigungen wegen in Tübingen angefeindet! Dem Katholiken Galileo Galilei waren von Venedig bis Florenz die Lehrstühle nur so nachgeworfen worden. An einen Lehrstuhl für Kepler im protestantischen Tübingen kein Gedanke.
Das letzte protestantische Wort war – buchstäblich ex cathedra – von der Kanzel der Kathedrale Sankt Peter zu Genf herab gesprochen worden. Johannes Calvin in gewohnter Strenge: „Wer wird es wagen, die Autorität von Kopernikus über die des Heiligen Geistes zu stellen?“
So stand Papst Urban jetzt da, so wurde er von Galileo Galilei den Protestanten vorgeführt: als Förderer und Beschützer eines grössenwahnsinnigen Narren, der alles auf den Kopf stellen wollte, was Luther und Calvin in der Bibel unumstößlich lasen, was Melanchthon vierundzwanzig Stunden am Tag mit eigenen Augen am Himmel sah.

Das militärische Debakel in Deutschland war schlimm genug. Ein biblisches Debakel konnte Urban VIII. sich jetzt nicht mehr leisten. Der ganzen Christenheit musste er dramatisch zeigen, dass nicht Sankt Peter in Genf, sondern Sankt Peter in Rom der Fels wahrer Bibeltreue war. Urban VIII. musste einem Galileo Galilei den biblischen Meister zeigen. Nicht eigentlich wegen Ketzerei wurde Galileo Galilei verurteilt, sondern – die Formulierung ist geradezu protestantisch – weil er Ansichten vertreten habe, die „der Heiligen Schrift zuwider“ seien.
Galileis private Briefe offenbaren in dieser Zeit ein Delirium kranker Selbstüberschätzung: „Was wollt denn ihr, Herr Sarsi, da es doch mir allein vergönnt war, alles Neue am Himmel zu entdecken, niemand anderem als mir allein!“
Und in einem Brief an seinen Freund Diodati beschwört er „den Himmel, die Welt, das Universum, das ich durch meine wunderbaren Beobachtungen und klaren Beweisführungen hundertfach, ja tausendfach mehr als jeder Weltweise aller vergangenen Jahrhunderte erweitert habe“.
Und kein Gramm Humor. Anders als bei Erasmus kein Milligramm Selbstironie. Hier spricht, auf Deutsch gesagt, der größte Gelehrte aller Zeiten. Hier spricht, auf Lateinisch gesagt, der neue Pontifex maximus eines monströsen Aberglaubens: das Fernrohr als Sakrament unumstößlicher, endgültiger Wahrheit. Wo bleibt da noch Urban VIII., der alte einfältige Pontifex im alten einfältigen Vatikan? Als „Simplicio“, als Hofnarr allenfalls, darf er, der Neuzeit zur Belustigung, dem allwissenden Hohenpriester der neuen Wissenschaftsgläubigkeit die astronomische Schleppe tragen.
Nicht Galileis Argumente waren ketzerisch. Verdammenswert war die blinde, rücksichtslose Überheblichkeit, mit der er sie ins Universum hinausposaunte. Ohne sich zu überlegen, was er damit, außerhalb seines akademischen Fachbereichs, anrichtete. Der Fall Galileo Galilei war schlimmer: Dieser verantwortungsloseste aller Wissenschaftler war im Begriff, die ganze Menschheit zu beschädigen.
Kaum war Galileo Galilei 1609 der grosse Scoop mit dem „nuncius sidereus“ gelungen, da stellte er schon das „von ihm erfundene Fernrohr“ hoch auf dem Campanile von San Marco in Venedig auf. Um ihn herum Venedigs Feldherrn. Stolz richtete er das Objektiv auf die Kriegs- und Handelsschiffe unten in der Lagune. Vor dem staunenden venezianischen Militär pries er die Vorzüge seiner angeblichen Erfindung mit folgenden Worten: „Auf dem Meere werden wir die Fahrzeuge und Segel des Feindes zwei Stunden früher entdecken, als er unser ansichtig wird. Indem wir so die Zahl und Art seiner Schiffe unterscheiden, können wir seine Stärke beurteilen, um uns zur Verfolgung, zum Kampf oder zur Flucht zu entschliessen. Ebenso lassen sich auf dem Lande die Lager und Verschanzungen des Feindes innerhalb seiner festen Plätze von entfernten, hochgelegenen Stellungen aus beobachten und auch auf offenem Felde zum eigenen Vorteil jede seiner Bewegungen und Vorbereitungen sehen und in allen Einzelheiten unterscheiden.“
Aufschlussreicher als das, was einer sagt, ist aber die Art, wie er es sagt. „Wir werden“, „wir können“, „wir unterscheiden“, „wir beurteilen“, das ist, obwohl aus Galileis Mund hoch auf dem Campanile von San Marco ertönend, nicht etwa der Plural majestatis. Es ist das "Wir" bedenkenloser und vorbehaltloser Anbiederung eines Wissenschaftlers mit dem Militär.
In Würdigung solchen militärischen Diensteifers verlieh der Rat von Venedig dem Florentiner auf der Stelle ein Jahresgehalt von tausend Gulden sowie einen Lehrstuhl für Mathematik auf Lebenszeit.
Ein epochaler Januskopf: Champion der Emanzipation der Wissenschaft aus kirchlicher Knechtschaft und Märtyrer moderner Geistesfreiheit, das ist, von vorn betrachtet, das schöne Gesicht der Kultfigur Galileo Galilei. Von hinten betrachtet aber ist dies die hässlichste aller akademischen Fratzen: ein Naturwissenschaftler, der übereifrig, skrupellos sein Wissen und seine Technik in den Dienst politischer Tyrannen stellt. Und ihrer Feldherrn.
Mit moralischen Urteilen war die Inquisition nie so voreilig wie die atheistische Moderne. In diesem exemplarischen Falle allerdings soll das Urteil einem deutschen Atheisten überlassen werden.
In seinen „Aufzeichnungen zum ‚Leben des Galilei’“ schreibt Bertolt Brecht: „Galileis Verbrechen kann als die ‚Erbsünde’ der modernen Naturwissenschaften bezeichnet werden.“ Und für alle jene, die etwas Mühe haben zu verstehen, fügt er hinzu: „Die Atombombe ist sowohl als technisches als auch soziales Phänomen das klassische Endprodukt seiner wissenschaftlichen Leistung und seines sozialen Versagens.“

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